Donnerstag, 6. Februar 2020

Dichtestress - was tun?

Ein Thema, das mich seit geraumer Zeit beschäftigt, und immer belastender wird, ist der Dichtestress. Junge Leute, sprich die heutigen Teenager und Twens, dürften sich erst gar nicht mehr an die Zeit erinnern, in der es Dichtestress noch gar nicht gab. Und da dies ein tendenziell "neues" Problem in der Schweiz ist, gibt es noch wenige Gegenstrategien.

Ursachen - woher rührt der Dichtestress?


Nun, die Ursachen liegen natürlich auf der Hand. Hatten wir im Jahr 1960 noch 5.4 Millionen Einwohner in der Schweiz, sind es heute annähhernd 9 Millionen. Ein Wachstum um 3.6 Millionen oder 66%.


Betrachtet man die Statistik der Anzahl total zugelassener Personenwagen in der Schweiz, erkennt man den Grund für Verkehrsüberlastung - waren 1960 noch knapp 500'000 Autos auf den Strassen, sind es heute über 4.5 Millionen. Heisst, dass durchschnittlich mehr als jeder zweite / jede zweite ein Auto besitzt, 1960 war es nur jeder Fünfte!

Anzahl zugelassene Personenwagen in der Schweiz

Bedenkt man nun, dass im ungefähr gleichen Zeitraum die Infrastruktur nur von 700km auf 1800km ausgebaut wurde - und anfänglich überhaupt nicht auf motorisierten, nationalen Verkehr ausgelegt war - und seit Jahren in einer veritablen Sackgasse steckt (die Autobahnen auf entscheidenden Strecken wie Bern-Zürich werden trotz Dauerstau nicht auf sechs oder acht Spuren verbreitert), sind Verkehrsstaus vorprogrammiert.

 

Bezeichnend ist auch die Entwicklung der Staustunden in der Schweiz. Dazu das Zitat des Bundesamtes für Statistik: "2018 wurden auf den schweizerischen Nationalstrassen 25 366 Staustunden registriert. Im Vergleich mit 2009 kommt dies einer Verdoppelung gleich, wobei in erster Linie die Staus wegen Verkehrsüberlastungen zugenommen haben."


Und obige Grafik zeigt nicht einmal, dass vor dem Jahr 2000 noch so ziemlich alles in Ordnung war. Es ist auch sehr logisch, wenn man die Grafik der Staustunden und die Grafik der Nationalstrassenlänge ab dem Jahr 200 vergleicht: Es gab kaum eine Entwicklung in der Nationalstrassenlänge, die Bevölkerung wuchs aber im selben Zeitraum von 7.2 auf 8.8 Millionen, die Anzahl zugelassener Fahrzeuge wuchs um 30% oder eine Million (!) von 3.5 auf 4.5 Millionen! Und hiermit ist die Entwicklung des kommerziellen Verkehrs (Lastwagen, Kleinlieferwagen etc.) noch nicht einmal berücksichtigt!

Hence - Dichtestress, wir leiden seit 2009 deutlich darunter


Ich bin kein Statistik- oder Verkehrsprofi, aber wenn ich die Hinweise gesamthaft betrachte, dann hat wohl anfänglich eine vom Bürger zwangsläufig initiierte "Bewegungsmuster-Optimierung" stattgefunden. Heisst, wir haben die Mängel der Infrastruktur durch angepasstes Verhalten kompensiert. Ein Teil dürfte erst auf Öffentlichen Verkehr umgestiegen sein oder hat sich vielleicht eine Stelle in der Nähe des Wohnortes gesucht oder umgekehrt, um nicht all zu weit fahren zu müssen. Ich meine - hat das denn irgendwer nicht? Aber irgendwann war es dann einfach zuviel, so wie es aussieht, spätestens ab 2009 (4 Millionen Fahrzeuge auf den Strassen):


Google Trends Thema: "Dichtestress"

 2014 gab es vermutlich einige Grossbaustellen, die massiv Verkehrsstau auslösten:


Google Trends Thema "Verkehrsstau"

Traurigerweise hat sich die Situation seither nicht mehr verbessert und blieb auf hohem Niveau schlecht.

Auf die Situation im ÖV gehe ich jetzt nicht ein, aber die Statistiken wären hier beim Bundesamt für Statistik Schweiz. Gesamthaft hat sich die Anzahl Pendler in der Schweiz zwischen 1980 und heute verdoppelt - von 2 Mio auf 4 Mio.




Was tun gegen Dichtestress?


Es gäbe meiner Meinung nach ganz einfache Lösungen, die noch dazu auf der Hand liegen.

Lösung 1: Telearbeit

Die Ursache vom Dichtestress sind zu 99% die Berufspendler. Sieht man ja schön, wenn man an einem Sonntagvormittag dieselbe Strecke bewältigt, wie an einem Montag um 7:30 Uhr. Erlaubt man als Arbeitgeberin nun Telearbeit statt Präsenzarbeit, reduziert / eliminiert man einen guten Teil des Pendelverkehrs. Einige Grosskonzerne in der Schweiz haben das Problem schon erkannt und setzen aktiv auf dieses Arbeitsmodell. So hat Swiss Re am 2018 eröffneten neuen Sitz in Zürich bewusst weniger Arbeitsplätze als Beschäftigte geschaffen und die Angestellten explizit aufgefordert, auch von zuhause aus zu arbeiten.



Dies bedingt natürlich einen krassen Kulturwechsel in den Chefetagen. Und natürlich darf der Stöffel vom Controlling jetzt auch nicht Büechli führen, wer wann wie lange am Platz war. Es geht neu darum, die Leistung der Leute zu bewerten, nicht ihre Präsenzzeit. Das ist eine Herausforderung. Als in meinen Augen sehr leistungsstarke Frau sehe ich es aber nicht nur für die Entlastung des Strassen- und ÖV-Netzes als Riesenchance. Beurteilt man nämlich alle Arbeitnehmenden nach ihrer Leistung - und dazu wird man Methoden entwickeln - wird endlich auch sichtbar, welches die echten Performer sind, und wer vor allem Sitzleder und Pausenklatsch pflegt. Das wird Teilzeit arbeitenden Müttern extrem zu gute kommen (siehe auch meinen Beitrag "Teilzeitstrategien").

Für die Einzelnen bedeutet Telearbeit auch, wieder mehr von seinem Zuhause zu haben, mehr Zeit mit der Familie oder Hobbies verbringen zu können und vor allem: Weniger Zeit in sinnlosen Staus!

2. Coworking-Spaces und Satelliten-Büros

Solange die Videokonferenz oder VR-Konferenz-Technik noch nicht überall auf sehr hohem Niveau etabliert ist, sprich - man hat Einschränkungen in der zwischenmenschlichen Kommunikation - solange wird Telearbeit die Präsenzarbeit (Meetings, Workshops, Flurgespräche) nie wirklich ersetzen können. Darum sollten Firmen wenn möglich Co-Working Spaces bilden, jedoch nicht nur in Stadtzentren. Erstens löst das das Pendlerproblem überhaupt nicht (keine Parkplätze, viel Dichtestress), zweitens benachteiligt man da alle, die in Agglomerationen oder auf dem Land wohnen.

Satelliten-Büros ergänzen zentrale Coworking-Spaces. An verkehrstechnisch für "Auswärtige" günstigen Knotenpunkten, sprich leicht erreichbar, mit Parkplätzen etc. stellt die Firma Sitzungsräume, flexible Arbeitsplätze und Treff-Zonen zur Verfügung.

3. Fragmentierte Anstellungen / Teilzeitarbeit / Mehrfachbeschäftigung

Hinterfragen muss man heute meiner Meinung nach auch die Forderung nach unbedingter Loyalität zu einem einzigen Arbeitgeber. Die Grundhaltung ist heute meistens noch: Du hast Dich Deinem Arbeitgeber zu 100% zu verpflichten. Alles, was Du daneben tust, hast Du uns zu melden / müssen wir Dir erlauben. Wir schreiben zudem eine Konkurrenzklausel in Deinen Arbeitsvertrag, damit Du ja nicht auf die Idee kommst, Dich noch woanders zu engagieren. Das ist nicht zeitgemäss und repressiv.

Zudem ist es in vielerlei Hinsicht ein Riesenproblem

Erstens wird fast jeder Job, ob Vollzeit oder nicht, nach zwei Jahren etwas langweilig. Man hat alles schon einmal gemacht, es ergibt sich so gut wie nie die Möglichkeit, sich intern zu verändern oder gar weiterzuentwickeln. Nur in Grosskonzernen kommen Job-verändernde Beförderungen überhaupt vor. Die meisten Leute sind so bald mal demotiviert und werden ihr volles Potenzial nicht ausschöpfen. Zweitens: Kriegt man von diesem Arbeitgeber die Kündigung, aus welchen Gründen auch immer, steht man gleich auf Null und muss zum RAV.

Hat man hingegen mehrere Teilzeitstellen (wie Mandate bei Selbständigen), ist man als Arbeitnehmer flexibler, hat mehr Abwechslung und verliert man eine Stelle, hat man immernoch die andere. In Zeiten, in denen mit dem "Humankapital" immer sorgloser umgegangen wird (Reorgs, Massenentlassungen, Standortverschiebungen) sollte den Direktbetroffenen, dem "Humankapital", auch mehr Flexibilität zugesprochen werden. Und damit meine ich nicht das Darüberhinwegschauen, wenn einer alle zwei Jahre die Stelle wechselt. Das ist keine Lösung, das ist Kopf in den Sand stecken.

Denn seien wir ehrlich: Motivierte Mitarbeitende, die auch noch ausserhalb ihres Betriebes Erfahrungen sammeln, sind doch den abgelöschten Sesselklebern und Jobhoppern vorzuziehen, oder? Leider muss in der Schweiz von Seiten Gesetzgeber noch nachgebessert werden, denn die Voraussetzungen für Mehrfachbeschäftigung ohne eigene Firma sind noch nicht gegeben. Und nicht jede/r möchte eine eigene Firma gründen, denn das ist mit einem grossen administrativen Aufwand - Buchhaltung, MwSt, Versicherungen, Vorsorge etc. verbunden (Danke, Bund!!).

Übrigens bin ich aus genau diesen Gründen gegen den Koordinationsabzug bei der AHV und für die freie Pensionskassenwahl. Beides ist nicht mehr zeitgemäss und absolut nicht im Interesse von Arbeitnehmenden.


Zusammenfassung

Man kann die negativen (auch gesundheitlich schädigenden) Auswirkungen von Dichtestress nicht so entgegenwirken, dass man die Pendlerströme und -zeiten meidet. Diesen Spielraum haben wir schon lange ausgereizt. Auch bauliche Massnahmen wie der Ausbau vom Strassen- und Schienennetz werden in den nächsten zwanzig Jahren keine Linderung bringen.

Viel schneller kann man und wird man meiner Meinung nach die Arbeitsmodelle anpassen. Und damit kann jede/r von uns heute anfangen, indem man im Büro einfach mal Homeoffice verlangt. Einfach mal ausprobieren statt aus Prinzip dagegen sein. Wenn die Firma dabeibleiben will und Talente anziehen will, dann muss sie mit der Zeit gehen und sowohl Teilzeitarbeit als auch Homeoffice ermöglichen. Konsequent. Und man darf die Leute dann eben nicht nach ihrer Präsenzzeit - was im Homeoffice dem Skype Status "online" entspricht - beurteilen, sondern nach dem, was sie liefern. Nicht mehr, nicht weniger.










Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen