Sonntag, 20. September 2015

Abgrenzung in einer Welt der Distanzlosigkeit

Die meisten von uns hatten vermutlich schon einmal einen Moment, in dem sie sich in ihrer Privat- oder gar Intimsphäre verletzt fühlten. Manchmal ist es die Schwiegermutter, die immer dann anruft, wenn man endlich frei und anderes zu tun hätte, oder - und das heute leider immer häufiger - der Chef schickt ein E-Mail nach Arbeitsschluss, das dringend beantwortet werden muss. Wie schafft man es, seinen Anspruch auf Freizeit durchzusetzen?


Als Single ohne Kind wird dies vermutlich weniger zum Thema, aber sobald die magische Grenze zur Elternschaft überschritten wird, ist Zeit plötzlich ein viel, viel, viiiiel wertvolleres Gut als je zuvor. Spätestens jetzt müssen wir lernen, mit ihr auch entsprechend zu haushalten. Dabei geht es um das in Einklang bringen eigener und fremder Erwartungshaltung.

Eigene Erwartungshaltung

Das Problem findet sich meist vor allem bei einem selbst: An sich selbst stellt man häufig die höchsten Erwartungen. Am einfachsten begegnet man diesen mit der Frage: "Wer hat eigentlich gesagt, dass...?" Hier ein paar Beispiele:
  • ...dass ich jedes Wochenende mit meiner Schwiegermutter telefonieren muss?"
  • ...dass ich nach Feierabend auf dem Handy meine E-Mails lesen und beantworten muss?"
  • ...dass ich bei jeder Sitzung des Vereins dabei sein muss?"

Das Problem dabei ist: Mit dem alten Verhalten hat man bei den andern über längere Zeit eine bestimmte Erwartungshaltung geschaffen. Ändert man sein Verhalten nun, muss man das den "Betroffenen" vorher irgendwie ankündigen. Sonst säht man Probleme. Aber man soll die Veränderung nicht diskutieren, sondern wirklich ankündigen. Ganz nach meiner "No Bullshit" Regel bedeutet das, die Konfrontation nicht scheuen und seinen Weg konsequent zu verfolgen, auch wenn der/die andere im ersten Moment nicht glücklich sein wird. Wie geht frau am besten vor?

Eltern, Geschwister etc.

Die Familie ist in aller Regel viel toleranter, als man denkt. Das liegt daran, dass sie keine andere Wahl haben, als zu akzeptieren; Sie können dich ja nicht aus der Familie ausschliessen, bloss weil du nicht so funktionierst, wie sie es gerne hätten. Und selbst wenn es zum Eklat kommt, ist er in der Regel von kurzer Dauer. Trotzdem sollte man bei der Familie immer mit Bedacht und Respekt vorgehen - sie ist auch umgekehrt nicht austauschbar und häufig viel wertvoller, als man es in der gegenwärtigen Lebensphase einzuschätzen vermag. Am einfachsten adressiert man das Thema unter vier Augen, z.B. mit der Schwiegermutter, und bleibt in der Ich-Form:
"(Vorname), ich würde unsere regelmässigen Telefonate gerne reduzieren. Unter der Woche bin ich nach der Arbeit zu müde und am Wochenende, nach der Hausarbeit, möchte ich mich entspannen und etwas Zeit für mich haben. Mir wäre es lieber, wenn wir unsere Gespräche auf den nächsten Besuch verschieben."
Damit hast du klipp und klar gesagt, was du warum ändern möchtest und auch einen Vorschlag für einen Kompromiss gebracht. Noch ein Tipp: Wenn sie jetzt trotzdem noch anruft, kannst du mit gutem Gewissen nicht rangehen. Das ist nur konsequent und die Schwiegermutter weiss, dass du es ernst meinst. Vermeide beim Gespräch auf jeden Fall Vorwürfe ("Du rufst immer zum falschen Moment an." "Du nimmst keine Rücksicht auf mich."). Man kann sowas ganz sachlich kommunizieren und du meinst es ja auch nicht als Vorwurf; Es geht ja in erster Linie um dich und dein Bedürfnis nach mehr Freizeit.

Arbeitgeber

Bei Vorgesetzten gestaltet es sich zwar heikler, sich abzugrenzen, aber eigentlich auch wieder nicht; Per Gesetz kann nicht von dir verlangt werden, dass du nach Erreichen der Soll-Arbeitszeit noch E-Mails oder Anrufe bearbeitest. Schon gar nicht, wenn du für dein Handy privat aufkommst. Die Erwartungen, die heute während der Arbeitszeit an einen gestellt werden, sind meiner Meinung nach ohnehin genug hoch. Darum schlage ich persönlich vor, auch hier das Gespräch mit dem Chef / der Chefin zu suchen und ein klares Statement abzugeben:
"(Vorname), ich schätze das Vertrauen sehr, das du mir schenkst, und freue mich über die Verantwortung, die du mir gibst. Ich hoffe, deinen Erwartungen als Mitarbeiterin zu entsprechen, möchte in Zukunft nach Feierabend jedoch keine E-Mails und Anrufe mehr bearbeiten, da ich festgestellt habe, dass mir ansonsten die Zeit zur Erholung fehlt. Wenn das bedeutet, dass du mir einzelne Verantwortungsbereiche wieder entziehen möchtest, kann ich das verstehen."
Damit hast du klar adressiert, dass du hinter ihm / dem Unternehmen stehst, dass du aber auf eine saubere Trennung von Arbeits- und Freizeit bestehst und dass du notfalls in Kauf nimmst, Verantwortung abzugeben. Jetzt können deine Vorgesetzten entscheiden, ob sie das wollen, oder ob sie sich selber am Riemen reissen und deine - absolut berechtigte - Bitte respektieren. Auf lange Sicht möchte ich dir sagen, dass es sich selten lohnt, als Angestellte/r Überstunden (ja, auch auf dem Handy) zu leisten. Meist wirst du nur ausgenutzt (nimm es als Hinweis, wenn du dein Handy privat bezahlst und trotzdem Firmenmails beantwortest). Wenn du wirklich so viel Energie und Zeit hast, dann investiere sie besser in ein eigenes Projekt oder eine Weiterbildung.

Vereine / Kirche / Freunde

Es gibt Menschen, die leben in Vereinen auf - Sport, Kirchgemeinde, Feuerwehr etc. Auch hier muss man darauf achten, nicht "in alten Zöpfen" hängen zu bleiben. Sobald man merkt, eine Aktivität verlangt einem mehr Energie ab, als man von ihr ziehen kann, sollte man sich distanzieren. Vielleicht ist einfach eine Pause angesagt. Manchmal ist die Lösung auch, sein Engagement zu reduzieren, z.B. nur an jede dritte Sitzung zu gehen. Je nachdem, welche Rolle man im Verein innehat, geht das.

Bei Freunden ist es schwieriger. Häufig klammern sie sich an einen und die gemeinsame Zeit - aus Gewohnheit meistens - und egal, wie nett man es formuliert, dass man sich seltener treffen will, es wird immer als Beleidigung und Zurückweisung empfunden. Stattdessen rate ich hier zu der Strategie, ein Jahr auf Reisen zu gehen. Auch wenn es nicht stimmt. In der (künstlichen) Abwesenheit haben beide Parteien Zeit, sich über den Wert der Freundschaft klar zu werden. Jeder Mensch ist anders, aber für mich persönlich sind die Freundschaften am wertvollsten, die auch dann noch bestehen, wenn man sich nicht regelmässig treffen kann. Wenn man sich nach einem Jahr - oder zwei - wiedersieht und es sich anfühlt, als wärs gestern gewesen.

Partner & Kind(er)

Am schwersten finde ich, ist es, beim Partner und bei / von den Kindern Zeit für sich selbst durchzusetzen. Man arbeitet, macht den Haushalt und hat oft ein schlechtes Gewissen, wenn man dann noch Zeit für sich ganz allein beanspruchen will. Aber wer es kennt, kennt es eben: Nach einer Weile ist man einfach nur noch genervt. Konstant. Man giftet sich gegenseitig an, ist zwar physisch anwesend, mental aber ganz woanders und emotional gesehen würde man am liebsten Reissaus nehmen. So weit sollte es gar nicht erst kommen.

Das bedeutet aber, dass man aktiv vorbeugen muss. In jedem Erziehungsratgeber steht, wie wichtig Zeit für sich selbst und für sich als Paar - d.h. ohne Kind - ist. Man muss diese Zeit genau so einplanen, wie Arzt- oder Geschäftstermine. Das OK vom Partner / der Partnerin ist dabei selten das Problem - er / sie will ja auch Zeit für sich haben. Das Überwinden der eigenen Zweifel ist der Kraftakt. Und auch die Erkenntnis, dass Freizeit plötzlich kostet - nämlich Organisationszeit und auch Geld (Babysitter). Ein Burnout ist aber teurer.
























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